Prolog Der Himmel war grau, und eine nasse Kälte hing in der Luft, eine Kälte, die es an sich hat, einen anzukriechen, die Kleider zu durchdringen und sich auf der Haut festzusetzen, und die einen frösteln läßt, auch wenn das Thermometer hartnäckig behauptet, daß die Temperatur noch einige Grad über Null liegen würde. Gelegentlich hörte ich das Rascheln der Wassertropfen, wenn sie von den Bäumen fielen und im nassen Laub auf der Erde landeten. Es regnete zwar nicht, die Luft war aber so feucht, daß das enthaltene Wasser an sämtlichen festen Oberflächen auskondensierte, Tropfen bildete und folgerichtig gelegentlich von da zu Boden fiel. Nicht daß das Wetter meine Laune noch weiter hätte drücken können, als ich durch den Wald marschierte. Ich war auf dem Heimweg vom Einkaufen und schleppte meine Tasche mit mir, darin unter anderem einen Sechserpack Anderthalb-Liter-Flaschen Cola, deren Gewicht sich aller paar Dutzend Schritte zu verdoppeln schien. Zum gefühlt hundertsten Mal wünschte ich mir, ich wäre nicht so starrsinnig gewesen, mir selbst gegenüber darauf zu bestehen, daß ein kleiner Fußmarsch mir gut tun würde und ich sowohl das Auto stehen ließ als auch den Busfahrplan ignorierte. Das hatte ich nun von meinem eigenen Dickschädel: ich wanderte durch einen winterlichen Wald (was mir gegenüber der Straße zwar runde zwei Kilometer ersparte, aber immer noch weit genug war: auch durch den Wald hatte ich einen Einkaufsweg von runden fünf Kilometern - pro Richtung, versteht sich), bepackt wie ein Lastenesel, fröstelte vor mich hin und sehnte das Ende meines Einkaufs-Ausfluges herbei. Wobei winterlich als Beschreibung für meine Umgebung ein dehnbarer Begriff war: der Herbst war zweifelsohne vorüber, aber dank einer Tiefdruckwetterlage über dem Atlantik hatten wir, wiewohl der Kalender Anfang Dezember zeigte, einige Grad Celsius über Null, und von Schnee war weit und breit nichts zu sehen. Wenigstens das kam mir entgegen: seit einigen Jahren schon war ich zu der Ansicht gelangt, daß Schnee in unserer heutigen Zeit einfach keinen Platz mehr hatte und allenfalls noch Kindern einigen Spaß bringen konnte, sonst aber einfach nur lästig, hinderlich und ständig und überall im Wege war. Wenigstens gab mir der Marsch durch das ungemütliche Wetter Zeit zum Nachdenken - eine Gelegenheit, auf die ich liebend gern verzichtet hätte, denn zuviel Schönes gab es nicht mehr, woran ich noch denken konnte. Schon seit Jahren, seitdem ich das letzte lebende Mitglied meiner Familie war, fragte ich mich, wozu ich mir die nahezu tägliche Tretmühle aus Arbeit, Einkaufen, Haushaltsführung und wieder von vorn eigentlich noch antat. Oh, es war nicht so, daß meine Arbeit schlecht war, und ich war in meinem Job sogar recht gut, um nicht zu sagen: ich gehörte zu den Besten. Leider blieb die Anerkennung dafür meistens aus, viele Kollegen begegneten mir eher mit Neid, die Vorgesetzten - betriebstypisch - mit Gleichgültigkeit; man hatte schlicht zu funktionieren, nicht mehr oder weniger; manche Kollegen achteten und einige schätzten mich vielleicht sogar. Darüber hinaus hatte ich es allerdings aus Gründen, die mir selbst nicht wirklich klar waren, nie geschafft, selber eine Familie zu gründen (was bei einer Arbeit im Rund-um-die-Uhr-Schichtdienst wohl auch schwierig geworden wäre, obwohl andere Kollegen es auch geschafft hatten), ich hatte praktisch niemanden, von dem ich ehrlichen Gewissens sagen konnte, daß ich ihn (oder besser: sie) liebte und umgekehrt. Folglich wartete nie jemand auf mich, wenn ich später als üblich nach Hause kam oder länger arbeitete, was oft recht angenehm war, mir mit der Zeit jedoch deutlich etwas fehlen ließ. Da ich aber den Menschen allgemein nicht vertraute, würde es wohl auch schwierig werden, an dieser Situation in absehbarer Zukunft etwas zu verändern. Sicher, es gab Partnerbörsen im Internet, und viel öfter, als mir lieb war, hörte ich von meinen Kollegen und den wenigen Menschen, die ich meine Freunde nennen konnte, den wohlmeinenden Rat, ich müsse einfach mal ausgehen und würde dann schon jemanden kennenlernen. Das Problem war: ich vertraute einfach niemandem, und generell war mir die Anwesenheit mir unbekannter Personen zu anstrengend, deshalb mied ich die Menschen lieber. Daß dies meiner Gesamtsituation, die ich selber als unbefriedigend empfand, nicht zuträglich war, wußte ich selbst, aber ich mußte damit leben. Vor einigen Wochen war ich dann, mehr durch Zufall, über eine Cartoonserie gestolpert, die ursprünglich für kleine Mädchen gedacht gewesen war und in der kunterbunte sprechende Ponys mit menschlichen Eigenschaften die Hauptrolle spielten. Seitdem ich im Internet erste Ausschnitts-Schnipsel dieser Serie gesehen hatte, war ich einer schwer erklärlichen Faszination für diese Serie erlegen, von der ich mittlerweile wußte, daß sie auch massenweise andere Erwachsene in ihren Bann gezogen hatte. Ich konnte einfach nicht anders, als die Ponys, die mich aus dem Bildschirm heraus mit großen Augen ansahen, zu mögen und in gewisser Weise sogar zu lieben. Die meisten waren durchaus nicht als Kinder dargestellt, hatten aber einige kindliche Charakterzüge, die etwas tief in mir, von dem ich nicht gedacht hätte, es überhaupt noch zu besitzen, wieder hervorgeholt und zum Klingen gebracht hatten - und seither freute ich mich schon darauf, jeden Tag eine weitere Folge (Internet sei Dank, somit war ich nicht auf die Gnade oder Ungnade irgendwelcher Fernsehsender, die ich sowieso nicht empfangen konnte, angewiesen, und es bestand keine Gefahr, daß die Ausstrahlung von heute auf morgen irgendwelcher Quoten wegen gestoppt werden würde) dieser Serie mit dem Namen "My Little Pony - Friendship is Magic" zu sehen. Glücklicherweise existierten bereits drei Staffeln, und so hatte ich genügend Folgen-Vorrat zum Ansehen "auf Lager". Immer, wenn ich mir eine Folge ansah, saß ich einfach mit einem selig-glücklichen Lächeln vor dem Bildschirm und fühlte mich danach einfach besser. Im Nachgang hatte ich vesucht, mehr über die Serie und die Welt, in der sie spielte - sie nannte sich Equestria - herauszufinden, was mir - wieder dank Internet - auch trefflich gelungen war, und ich hatte mir ein nicht unbeträchtliches Wissen über Equestria und seine Bewohner angeeignet. Sowohl Folgen als auch Recherche waren ein Lichtblick in meiner Freizeit und ließen mich die Welt und mein Leben weniger grau erscheinen - ich hatte wieder etwas gefunden, wofür es sich lohnte, Arbeit, Einkauf, Haushalt und wieder Arbeit, Einkauf und Haushalt weiterhin auf mich zu nehmen, nachdem ich zuvor schon fast völlig in äußerst düsteren und - vorsichtig gesagt: sehr endgültigen - Gedanken versunken gewesen war. Was nun allerdings ganz und gar nicht hieß, daß ich nicht besser auf meinen Weg durch den naßkalten Wald geachtet hätte. Offenbar hatte ich genau das nicht getan - denn als ich stehenblieb und mich umsah, kam mir meine Umwelt recht unbekannt vor. Obwohl ich den Einkaufsweg im Sommer und Frühherbst häufig mit dem Fahrrad gefahren und später ebenfalls oft zu Fuß gelaufen war, wußte ich jetzt nicht, wo ich mich genau befand - eine Tatsache, die mich doch einigermaßen beunruhigte, zumal zusätzlich die Temperatur zu fallen begann und die Nässe in der Luft zu Nebel auszukondensieren begann. Ich überlegte und versuchte, den Weg, den ich zu meinem aktuellen Standort gegangen war, zu rekonstruieren. Am einfachsten ging das sicherlich, indem ich mich umdrehte und den gegangenen Weg zurücklief. Soweit die Theorie. Was ich dabei nicht bedacht hatte, war die etwas hinderliche Tatsache, daß schlichtweg kein Weg hinter mir existierte. Irgendwie hatte ich, abgelenkt durch meine Grübeleien, das Kunststück fertiggebracht, quer durch den Wald zu laufen. Dunkel vermeinte ich mich zu erinnern, daß mein eigentlicher Weg durch einen großen umgestürzten Baum blockiert gewesen war und ich diesen wohl hatte umgehen wollen. Auch das war schon merkwürdig genug gewesen: noch auf meinem Hinweg zum Einkaufsmarkt hatte es dieses Hindernis einfach nicht gegeben, der Weg war so gewesen, wie ich ihn in Erinnerung gehabt hatte. Nun mag es zwar vorkommen, daß Bäume umstürzen, allerdings geschieht dies meist bei dazu passendem Wetter, also bei Sturm oder unter gewaltigen Schnee- oder Eislasten - beides hatte in den letzten Stunden aber nicht stattgefunden, wir hatten windstilles, graues, feuchtes Wetter, von einem Sturmtief war weit und breit nichts zu sehen oder zu merken. Eigentlich konnte es mir egal sein, ob und warum nun auf einmal dieser Baum meinen Weg versperrt und mich zum Ausweichen gezwungen hatte - fakt war, daß ich, völlig in Gedanken, wohl in der geänderten Richtung einfach weitergelaufen und somit nun mittem im Wald gestrandet war. Ich sah mich um. In den letzten zwei Minuten war der Nebel zusehends dichter geworden, und dicke graue Schwaden waberten zwischen den Bäumen umher. Unter diesen Umständen den richtigen Weg zu suchen, war mit Sicherheit keine gute Idee, also blieb ich stehen und sah mich mit langsam wachsender Panik um, als mir mein Smartphone einfiel. Dieses Ding hatte, wenn ich mich recht entsann, auch eine Navigationssoftware - vielleicht konnte ich damit herausfinden, wo ich war. Ich zog es aus der Tasche und schaltete es ein. Kein Empfang. Sonderbar - normalerweise gab es keinen Flecken im Land mehr, der nicht durch das Handynetz erfaßt wurde. Aber telefonieren wollte ich ohnehin nicht, also startete ich das Navigationsprogramm und aktivierte die Suche nach GPS-Satelliten. Nach weiteren fünf Minuten sah ich ein, daß das Gerät keinen einzigen Satelliten fand. Grummelnd schaltete ich es aus und steckte es zurück in die Tasche. Danach sah ich mich erneut mit einer stetig wachsenden Mischung aus Verzweiflung, Ärger und Panik um - nur um festzustellen, daß der Nebel nochmals deutlich dichter geworden und die Temperatur abermals um einige Grade gefallen war. Da - was war das? In einiger Entfernung schien es eine helle Stelle in der mich umgebenden grauen Feuchtigkeit zu geben. Was auch immer es war, vielleicht war die Sicht von dort aus besser, also nahm ich meine schwer beladene Einkaufstasche wieder auf (vielleicht hätte ich nicht sagen sollen, daß ich wie ein Lastenesel, sondern eher wie ein Lastenpony bepackt war, ging es mir absurderweise durch den Kopf, und trotz meiner unerfreulichen Situation konnte ich mir ein schiefes Grinsen nicht verkneifen) und darauf zu - und erreichte nach wenigen Schritten, nach deutlich weniger Schritten, als es dem optischen Eindruck nach hätten sein sollen, eine Lichtung. An sich war daran nichts Besonderes - es war einfach eine wiesenartige, fast kreisrunde Lichtung in einem ansonsten nebelverhangenen und ungemütlich naßkalten Wald. Dennoch hätte mich nichts wirklich darauf vorbereiten können, was als nächstes geschah...