Kapitel 1: Eine raue Begrüßung In der schwachen Hoffnung, mir einen Überblick über meine Lage verschaffen zu können, trat ich einige Schritte auf die Lichtung hinaus und versuchte, mich umzusehen. Ich führte die Bewegung nie zu Ende. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich etwas Blaues aus dem nebel- und wolkenverhangenen Himmel herab- und auf mich zuschießen, dazu hörte ich etwas, was eindeutig ein Angriffsschrei war - und noch bevor ich irgendwie hätte reagieren können, traf mich etwas mit der Wucht eines heranrasenden Schnellzuges, katapultierte mich einige Meter weit durch die Luft und ließ mich äußerst unsanft im Unterholz einiger blattloser Sträucher landen. Ich konnte spüren, wie meine Hose über beiden Knien zerriß un die spitzen Äste mir die Haut aufrissen, bevor ich endlich zum Halten kam. Was um alles in der Welt war das? Ich drehte mich um - gerade noch rechtzeitig, um erneut das unbekannte blaue Etwas auf mich zurasen zu sehen. Dieses Mal schaffte ich es fast, ihm auszuweichen. Ich hörte das machtvolle Rauschen gewaltiger Schwingen, wurde bei dieser neuerlichen Attacke seitlich getroffen und mit der Schulter gegen einen Baum geschleudert, erneut heftig genug, als daß auch meine Jacke aufriß und ich mit meinem Pullover und der Haut darunter über die raue Borke des Baumes scheuerte. Allerdings vergaß ich meinen Schmerzensschrei, als ich der blauen Erscheinung mit den Augen folgte. Durch meinen Ausweichversuch war der Angreifer offenbar überrascht worden und hatte einen anderen Aufprallwinkel auf mich bekommen, als er vorausberechnet hatte, denn das wirbelnde Blau sauste nun anscheinend unkontrolliert durch den Wald, um nach einigen Metern ebenfalls recht abrupt durch einen Baum zum Halten gebracht zu werden. Allerdings war diese Kreatur offenbar deutlich robuster gebaut als ich, denn sie sortierte sich selbst schnell neu, rutschte am Baumstamm herunter, und ich sah zum ersten Mal, wer mich da wirklich angegriffen hatte. Zwischen Sehen und Verstehen lagen allerdings Welten. Meine Augen behaupteten, daß mich ein hellblaues Pony mit Flügeln, einer regenbogenbunten Mähne und einem ebenso bunten Schweif angegriffen hatte. Das Wesen mochte etwas über einen Meter lang und am Kopf vielleicht eineinviertel Meter hoch sein und funkelte mich aus zusammengekniffenen Augen, in denen ich deutlich eine rosigfarbene Iris erkennen konnte, an. Kein Zweifel: ich stand niemand anderem gegenüber als Rainbow Dash - dem schnellsten Pegasuspony in Equestria. Allerdings weigerte sich mein Verstand, diese Tatsache anzuerkennen. Glaubte ich gerade wirklich, einem Wesen aus einer Cartoonserie gegenüberzustehen? Zwar hätte ich mir diese Gelegenheit durchaus schon manchmal gewünscht, aber sämtliche Ponys waren erfundene und gezeichnete Wesen, nichts, was einem auf einmal in natura gegenüber stehen konnte - und erneut zum Angriff überging. Rainbow - oder was auch immer mich da attackierte - senkte den Kopf, scharrte ein-, zweimal mit dem Vorderhuf über den Boden und stürmte erneut auf mich zu. Ich versuchte, rückwärts auszuweichen, erreichte damit allerdings nur, daß ich mich in stacheligen Brombeerranken verfing und rücklings fiel --treffsicher in eine große morastige Pfütze, die das, was die hohe Luftfeuchte noch nicht geschafft hatte, binnen einer Sekunde nachholte, und mich samt Kleidung bis auf die Haut durchnäßte. Dann war Rainbow auch schon heran und stieß mir ihre Vorderhufe auf die Brust, so hart, daß mich nur der weiche morastige Untergrund, in den mein Körper gedrückt wurde, vor einigen gebrochenen Rippen bewahrte. Seit ich die Lichtung betreten hatte, war vielleicht eine halbe Minute vergangen, und ich war noch immer so perplex, daß ich nicht einmal wirklich Angst hatte. Das Pony drückte mich gnadenlos auf den Boden, nagelte mich regelrecht daran fest, und machte mir damit sogar das Atmen schwer, aber mein Verstand weigerte sich noch immer, zu begreifen, was da gerade vor sich ging. War ich am Ende von einem herabstürzenden Ast getroffen worden oder hatte mir irgendeine Vergiftung eingefangen (diese Möglichkeit zog ich ganz ernsthaft in Betracht, allerdings fiel mir nichts ein, was ich zu mir genommen hatte und was eine derartige Halluzination hätte auslösen können) und träumte das alles nur? Falls dem so war, dann war es zumindest ein Traum mit Ton, denn das Wesen konnte sprechen - eine weitere Gemeinsamkeit mit dem Pony aus der Cartoonserie, wie ich registrierte. "Hab ich dich! Wer oder was bist du, und was hast du vor, daß du hier durch unseren Wald schleichst?! Bist du ein Spion? Hast sicher vor, uns auszuspionieren?!" Alles, was ich zustande brachte, war ein völlig verwirrter Blick. Die Möglichkeit, daß ich irgendwelchen Wahnvorstellungen erlag, hatte ich noch nicht völlig ausgeschlossen, allerdings hatte ich noch nie von Halluzinationen gehört, die einem körperliche Schmerzen bereiteten. Genau die machten sich nun aber bei mir bemerkbar - durch den Druck auf meiner Brust, meine aufgeschürften Knie und die ebenso lädierte Schulter, und auch die Brombeerstacheln in meinen Beinen trugen nicht zu meinem Wohlbefinden bei. Außerdem machte sich die Kälte des Wassers, in das ich gestürzt war, sehr unangenehm bemerkbar. Mißtrauisch beäugte mich das Wesen. "Was ist los? Kannst du nicht sprechen, oder willst du nicht?" Dieses Mal versuchte ich, zu antworten, brachte aber nur ein Husten zustande. Immerhin schien das Pony zu bemerken, daß der Druck ihrer Hufe auf meinen Rippen zu stark war, um mich noch normal atmen zu lassen, und sie reduzierte ihre Anpreßkraft um einige hundert Tonnen (wenigstens kam es mir so vor). Dankbar holte ich tief Luft und versuchte, mich aufzusetzen, als ihr Kopf auf mich herunterschoß und nur Millimeter vor meinem Gesicht anhielt. "Versuche nicht, mir zu entkommen - ich bin die schnellste Fliegerin in Equestria, und ich lasse keine Spione entkommen. Hast du verstanden?!" "R - Rainbow Dash?!", krächzte ich ungläubig. Vielleicht war die Erwähnung ihres Namens keine besonders schlaue Idee, denn das Mißtrauen in ihren Augen verstärkte sich. "Woher kennst du meinen Namen? Ausspioniert, hä?" Oh-oh, dachte ich. Für einen Traum wurde das Ganze allmählich zu realistisch, und ich hatte den dringenden Verdacht, daß es besser wäre, sich eine halbwegs überzeugende Antwort einfallen zu lassen. Vielleicht war es am besten, wenn ich mitspielte... "Wer braucht Spionage, wenn es um die schnellste Fliegerin Equestrias geht? Davon gibt es nur eine - und das ist die einzigartige Rainbow Dash." Ich kam mir bei diesen Worten selber ein wenig dämlich vor - vorsichtig gesagt - , hatte aber scheinbar den richtigen Ton getroffen: der Ausdruck in den großen runden Augen vor mir änderte sich, die Feindseligkeit darin nahm sofort um einiges ab, aber gewonnen hatte ich noch nicht. "Nun, wer ich bin, ist bekannt, das ist wahr! Die Frage ist aber, wer du bist, daß du hier durch unseren Wald schleichst? Und was hast du mit dir geschleppt? Sabotagewerkzeug?" Ich konnte mir ein entnervtes Aufstöhnen nicht verkneifen. War dieses Pegasuspony völlig paranoid? "Mein Name ist Michael, aber das wird dir nicht viel sagen, nehme ich an. In der Tasche sind meine Einkäufe, wenn es dich interessiert, du kannst gerne nachsehen, und was soll das heißen - 'unser' Wald? Wo genau bin ich überhaupt?" Bevor Rainbow antworten konnte, ertönte eine andere Stimme. "Was zum Hafer is'n hier los?!" Ich drehte meinen Kopf in die Richtung, aus der die Worte kamen. Wenn ich denn in einem Traum war - so ganz wußte ich immer noch nicht, ob ich all das wirklich erlebte oder mir nur einbildete - , dann war es ein besonders intensiver, und der Regisseur war wirklich gut. In wenigen Schritten Entfernung war ein anderes Pony aufgetaucht: gelborange, mit leuchtend blonder Mähne, einem ebenso blonden Schweif; beides von Haargummis zusammengehalten, mit Satteltaschen beladen und mit einem Westernhut auf dem Kopf. Die Größe ähnelte der des Ponys, welchem ich zuerst begegnet war (oder besser: das mich zuerst aufgespürt hatte). Zum Glück bewahrte mich Rainbow dieses Mal davor, mich selber um Kopf und Kragen zu reden, auch wenn sie es selbst vermutlich nicht beabsichtigt hatte - sie kam mir mit der Antwort einfach zuvor. "Dieses Wesen hier ist durch den Wald geschlichen, wo sonst nichts und niemand entlangschleicht, ich habe es von meiner Wolkenpatrouille aus gesehen und sofort diesen Spion hier festgehalten. Niemand schleicht sich unbemerkt in Ponyville ein!" "Was'n das überhaupt für'n Wesen?", wollte Applejack, denn niemand anderes konnte das neu angekommene Pony sein, wissen. "Das versuche ich gerade herauszufinden", antwortete Rainbow grimmig. Ich räusperte mich. "Falls ich was sagen darf..." Beide Ponys starrten mich an. "Wie gesagt: mein Name ist Michael, und um deine Frage", ich deutete mit dem Kopf in Richtung Applejack, "zu beantworten: ich bin ein Mensch. Eigentlich nicht wirklich selten - es gibt ungefähr sieben Milliarden von uns auf der Welt." Nun war es an den beiden Ponys, mich verwirrt anzusehen. "Warum ham'wir dann noch nie was wie dich hier gesehn?", wollte Applejack wissen. Eine berechtigte Frage, fand ich - allerdings von meiner Position aus ebenfalls. "Kann ich euch nicht sagen. Ich weiß nur, daß ich etwas wie euch in natura auch noch nie gesehen habe... aber ich weiß zumindest, wer und was ihr seid - und das ganz ohne Spionage", fügte ich eilig hinzu. "So? Und woher? Wer sind wir also?" "Nun, die Stuntfliegerin und Leiterin der örtlichen Wetterpatrouille haben wir ja schon geklärt - die einzigartige Rainbow Dash. Und in dir habe ich die Ehre mit Applejack, Leiterin von Sweet Apple Acres, Farm im Familienbesitz?" Die Antwort bestand aus einem fassungslosen Gesichtsausdruck, die Augen des orangefarbenen Ponys mit den smaragdgrünen Augen schienen immer größer zu werden. Ich beschloß, die momentane Überraschung zu nutzen. "Gestattet mir nur eine einzige Frage. Ihr müßt wissen: ich habe mich verlaufen und weiß - ehrlich - nicht, wo genau ich bin, deshalb: wo sind wir hier?" Die Verblüffung in den Gesichtern der beiden Ponys blieb, aber Applejack antwortete automatisch. "Wir sind hier an der Grenze zum Everfree Forest, kein' Kilometer von meiner Farm entfernt." "Kennt ihr irgendeine Stadt oder menschliche Ansiedlung hier in der Nähe?" "Ponyville natürlich... aber sowas wie du... Menschen... sowas ham' wir hier noch nie gesehn." Ich mußte ein letztes Mal nachsetzen. "Wir befinden uns in Equestria, vermute ich?" "Wo sonst?" "Nun... das ist eine längere Geschichte... ich kann sie euch gerne erzählen, aber bis ich fertig bin, bin ich erfroren. Können wir bitte irgendwo hingehen, wo es wärmer ist?" Ich hatte noch immer keine wirkliche Ahnung, wie ich zwei Cartoonfiguren erklären sollte, was ich wirklich war und daß ich auf eine Art, die mir selber völlig unklar war, in ihre Welt gelangt war. Rückblickend ergab natürlich alles Sinn: der umgestürzte Baum, mein Irrweg durch den Wald, die Tatsache, daß mein Smartphone weder ein Funknetz noch GPS-Satelliten fand, der sich ständig verdichtende Nebel und die seltsame Lichtung - es konnte nicht anders sein, irgendwie hatte ich einen Weg in eine andere Welt - eine andere Dimension, eine andere Wirklichkeit, wie auch immer man es nennen mochte - gefunden und befand mich in Equestria, dem Land aus der Cartoonserie. Vielleicht tat ich das auch nicht und lag irgendwo in meiner gewohnten Welt im Delirium und phantasierte mir das alles hier nur zurecht, aber darauf kam es jetzt auch nicht mehr an - innerlich hatte ich beschlossen, das vor meinen Augen ablaufende Spiel mitzuspielen. Allerdings änderte das nichts an der Tatsache, daß ich inzwischen nur noch erbärmlich fror - und Equestria hin oder her: gegen das Erfrieren eines Menschen half die Tatsache, sich in einer anderen Welt zu befinden, offenbar nichts. Ich schnatterte zur Bekräftigung meiner Worte unabsichtlich kräftig mit den Zähnen, und Rainbows Kopf ruckte erneut herum. "Lüge!", schrie sie. "Alles Lüge! Du bist nur gekommen, um uns anzugreifen!" Trotz meiner mißlichen Lage mußte ich lachen, ein Laut, der sich, gemischt mit Zähneklappern, reichlich sonderbar anhörte. "Seit wir uns kennengelernt haben, nagelst du mich am Boden fest. Ich erkenne es ja an: du bist stärker und auf jeden Fall schneller als ich, warum und vor allem wie sollte ich euch also angreifen?" Die Wut in ihrem Gesicht wich sichtlich dem Nachdenken, und mir kam der Einfall, mit meinem Wissen über die Serie und die Welt, in der sie spielte, nachzusetzen. Bis jetzt schien alles so zu sein, wie ich es am Computer stets gesehen hatte, also konnte ein Versuch wohl nicht schaden: "Applejack ist von euch Elementen der Harmonie das Element der Ehrlichkeit, richtig? Frag sie, ob ich lüge - ich verstehe ja, daß du mir nicht glaubst, aber sie sollte Wahrheit und Lüge auseinanderhalten können", schnatterte ich. Applejack kam auch richtig heran und sah mich einfach nur an. Ich konnte in ihrem Gesicht und ihren Augen keine Regung ablesen, als sie mich einfach nur ansah, aber nach einer kleinen Weile wandte sie sich Rainbow Dash zu. "Er sagt die Wahrheit. Wie ich es verstehe, geht diese ganze Sache deutlich tiefer als das, was wir sehen, aber er lügt uns nicht an. Wir sollten ihn mitnehmen zur Farm und dann weitersehen." Daß sie die Worte völlig ohne Akzent gesprochen hatte, fiel mir nicht einmal auf. Rainbow ging zwei Schritte zurück und gab meine Brust frei. "Hoffentlich bereuen wir es nicht... ich könnte mir nie verzeihen, wenn ich darin versagt hätte, meine Freunde vor einem gefährlichen Eindringling zu beschützen. Gehen wir." Ihr latentes Mißtrauen blieb, aber immerhin hatte ich erreicht, daß mich jemand - somepony, dachte ich, ein wenig verwundert über mich selbst - aus dem Wald herausführte. Ich rappelte mich mühsam auf, unterdrückte einige Schmerzenslaute (auch wenn beide Ponys sehen mußten, in welch schlechter Verfassung ich mich befand), humpelte mühsam auf die Lichtung und nahm meine Tasche wieder auf. Applejack schien zu spüren, wie schwer es mir fiel, mein Gepäck zu tragen, denn sie kam zu mir und sah mich einfach nur ermutigend an. Ich hielt ihr meine Tasche hin, nicht völlig sicher, was sie damit tun würde, aber sie nahm sie mit einem ihrer Vorderhufe auf und ließ sie mit einer geschickten Bewegung, die ein normales irdisches Pferd oder Pony schon mangels entsprechender Gelenke nie hinbekommen hätte, in einer ihrer beiden Satteltaschen verschwinden. Dann ging sie voran, ich folgte ihr unaufgefordert, und Rainbow bildete den Abschluß unserer seltsamen Wandertruppe, und wir machten uns auf den Weg.